Architektur und Musik

6 Von Formanalogien bis zu Soundscapes im 20. Jahrhundert

Die Bezugnahmen und Formanalogien zwischen architektonischen oder urbanistischen Entwürfen und musikalischen Kompositionen bestimmen weitgehend die Beziehungen zwischen Architektur und Musik von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Der latente Pythagoreismus in Le Corbusiers Entwurf der musikalischen Glasfenster für das Kloster Sainte-Marie de La Tourette (1956–1960), der auf den Zahlenreihen des Modulors[2] basiert, oder in Iannis Xenakis’ Übertragung der grafischen Notation der Streicherglissandi in seiner Komposition Metastasis (1953-1954) auf die Konstruktionsprinzipien des Philips Pavillons (1958), stellen Ausnahmen dar. Die subjektive oder metaphorische Bezugnahme auf Klangphänomene in der Architektur findet sich z. B. in Le Corbusiers Entwurf der Kapelle Notre Dame du Haut (1950–1955) in Ronchamp. Er bezeichnete die Kapelle als eine Art akustische Skulptur, die ihre Formen in die Entfernung projiziert und umgekehrt die antwortende Lichtenergie der umgebenden Räume empfängt. Diese Vorstellung entspricht dem von Edgard Varèse geprägten Begriff der Klangprojektion und spatialen Musik. Beispiele für eine freie Übertragung musikalisch-notationaler Systeme finden sich in dem urbanistischen Projekt Bloch City (1983) von Peter Cook, bei dem die Noten, Taktstriche und Notenlinien von Ernest Blochs Violinkonzert (1937–1938) als Hochhäuser, Brücken und Fahrbahnspuren interpretiert werden, oder in den dekonstruktivistischen Entwürfen von Bernhard Tschumi sowie in Steven Holls Entwurf Stretto House (1989–1992), in dem Béla Bartóks Komposition Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936) in Architektur übersetzt wird. Umgekehrt spielen auch architektonische Einstellungen oder Bauten für Komponisten eine inspirierende Rolle. Dazu zählen z. B. das universelle, utopische Denken Richard Buckminster Fullers für John Cages Formen einer indeterminierten aleatorischen Musik oder die Bauten des venezianischen Architekten Carlo Scarpa für die Kompositionen von Luigi Nono. Schließlich werden vorgefundene urbane Geräusche in der Musique concrète bei Pierre Schaeffer oder Pierre Henry, in der Minimal Music, z. B. in den Kompositionen von Steve Reich, in den Klanginstallationen, z. B. bei Bill Fontana oder Rolf Julius, oder generell in den City Soundscapes verarbeitet. Der Raum bzw. der konkrete Ort und damit der Bezug zur Architektur und zum Urbanismus avanciert in der Neuen Musik, in der Klangkunst und bei Audioperformances zu einem entscheidenden formbildenden Kriterium. Mit der Frage, was und wie in einer vorgefundenen architektonischen Umgebung auditiv wahrgenommen wird, beschäftigt sich schließlich die Klangarchitektur. Dass das architektonische Erleben immer auch durch auditives Wahrnehmen geprägt ist, zeigen Arbeiten wie Andres Bosshards Riflessione di una Diga (1987), bei dem die akustischen Eigenschaften des Staudamms in Fusio im italienischen Bezirk Vallemaggia zum Vorschein gebracht werden.

Der Modulor ist ein in den Jahren 1942 bis 1955 von Le Corbusier entwickeltes Proportions-System, das sich von den menschlichen Körpermaßen sowie dem Goldenen Schnitt herleitet.  
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