Performance Art als Schnittstelle für Visuelles und Auditives

3.6 Sehen als Hören

Eine besonders poetische Version einer Textpartitur findet sich im Werk eines weiteren Fluxus-Künstlers, La Monte Young. Sein berühmt-berüchtigtes Schmetterlingsstück, Composition No. 5 (1960), überlässt die Klangproduktion einem oder mehreren Schmetterlingen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass niemand, weder der Performer, der die Schmetterlinge freisetzt, noch die Zuhörer, den Klang dieses nicht-menschlichen Instruments hören kann. Ein Insekt, das ob seiner großen Schönheit bestaunt und in der Kunst immer wieder als Symbol der Verwandlung verstanden wird, spielt hier die Rolle des Instruments. Sein Flug fungiert als visuelle Metapher für die fehlende Melodie oder den unhörbaren Klang. Young soll seinem Kollegen Tony Conrad gegenüber bemerkt haben: Wie wunderbar, wenn Leute einer Sache zuhören, der sie normalerweise zuschauen![11]

Setzen Sie einen Schmetterling (oder eine beliebige Zahl von Schmetterlingen) am Aufführungsort frei.
Vergewissern Sie sich, dass der Schmetterling im Freien wegfliegen kann, sobald die Komposition zu Ende ist.

Die Komposition kann beliebig lang dauern; falls es kein zeitliches Limit für den Ablauf gibt, kann man Türen und Fenster öffnen, bevor der Schmetterling freigesetzt wird, und die Komposition wird für beendet erachtet, wenn der Schmetterling wegfliegt.

In diesem Stück thematisiert Young die Frage, wie weit Hörbarkeit eine unabdingbare Voraussetzung der Musik ist: Ich war mir sicher, dass der Schmetterling Geräusche verursachte, nicht nur durch das Schlagen seiner Flügel, sondern auch durch seine Körperfunktionen […] und wenn man nicht per Diktat festsetzen wollte, wie laut oder wie leise Geräusche sein müssen, bevor sie in das Reich der Musik Einlass finden […] dann war das Schmetterlingsstück Musik.[12] Diese Arbeit spricht Probleme der Grenzziehung nicht nur zwischen Geräusch und Musik oder zwischen Bild und Ton an, sondern auch zwischen Kultur und Natur. Soll Musik im Hinblick auf das menschliche Ohr definiert werden oder – vielleicht in einer wesentlicheren Weise – im Hinblick auf das, was verstärkungstechnisch machbar ist?

Ebenso schärft Young mit dem Stück Arabic Numeral (Any Integer), to H. F. den Fokus auf Prozesse des Hörens, denn hier ist die ausführende Person aufgefordert, einen nicht näher spezifizierten Klang als regelmäßigen Puls für eine beliebige Dauer zu spielen. In No. 4, einer weiteren Komposition Youngs aus den 1960er Jahren, wird der Konzertsaal verdunkelt und wenn die Beleuchtung wieder aufgedreht wird, kann dem Publikum mitgeteilt werden (oder auch nicht), dass ihre Aktionen während dieser Zeit die Aufführung waren. Wie in 4′33″ ist die Geräuschkulisse der Umgebung die Musik, und die Aufmerksamkeit wird auf den Kontext und den Ort der Performance gelenkt. Der theatralische Akt des Herunterfahrens der Beleuchtung weckt beim Publikum die Erwartung eines visuellen Spektakels, ohne dass diese Erwartung eingelöst wird – es gibt nichts zu sehen. Zusätzlich wird das Publikum ermutigt, genau hinzuhören, obwohl es nichts zu hören gibt außer den Geräuschen, die das Publikum selbst produziert. Die Musik entwindet sich dem Spalt, der zwischen Erwartung (Licht geht aus) und Erkenntnis (Licht geht an) besteht. Das Stück dramatisiert den impliziten Dialog zwischen Gesehenem und Gehörtem. No. 6 in dieser Serie stellt, wieder in Hinblick auf das Sehen, die Beziehung zwischen Performer und Publikum auf den Kopf, in dem die Performer das Publikum betrachten:

Die Performer sitzen (in beliebiger Zahl) auf der Bühne und schauen das Publikum auf dieselbe Weise an und hören ihm zu, wie das Publikum gewöhnlich die Künstler anschaut und ihnen zuhört. Wenn das Ganze in einem Konzertsaal stattfindet, sollten die Performer auf in Reihen angeordneten Stühlen oder Bänken sitzen; wenn der Aufführungsort eine Bar ist, könnten die Performer auf der Bühne genauso Tische vor sich haben und Getränke wie das Publikum.
Optional: Ein Plakat in der Nähe der Bühne mit der Aufschrift:

composition 1960 no.6
by La Monte Young
Eintritt
(Preis)

und Eintrittskarten, die vor den Stufen, die vom Zuschauerraum zur Bühne führen, verkauft werden und den Zuschauern Zutritt gewähren, die zusammen mit den Performern auf der Bühne den Rest des Publikums anschauen wollen.
Die Dauer der Aufführung kann nach Belieben festgesetzt werden.
[13]

Diese Vorgehensweise verkehrt die Vorstellung vom Publikum als Ansammlung passiver Zuschauer unvermittelt in das genaue Gegenteil. Sie macht den Blick zum einzigen kommunikativen Akt. Auf diese Weise wird das visuelle Element herausgestrichen, denn außer diesem gibt es nichts; ebenso wird die sozialisierende Natur einer musikalischen Aufführung betont.

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