Musikalisches im abstrakten Film

4 Strukturalität, Materialität und Transzendentalität

Da Grants Film lange Zeit vergessen war, galt Arnulf Rainer von Peter Kubelka (AT 1960) lange als der erste Flicker-Film. Arnulf Rainer besteht aus schwarzen (Schwarzfilm) und transparenten Kadern (Blankfilm) sowie Ton (weißes Rauschen) und Nichtton. Wie viele abstrakte Filmemacher bezieht sich auch Kubelka dabei direkt auf musikalische Methoden: Das zentrale Element für Arnulf Rainer ist der nach metrischen Prinzipien erarbeitete und in einer Partitur festgehaltene Rhythmus, der gleichermaßen in Dunkel und Licht, Stille und Ton umgesetzt ist.

Auf arithmetische Verhältnisse in der Musik bezieht sich auch Tony Conrads Film The Flicker (US 1966), der ebenfalls nur aus schwarzen und weißen Phasen besteht, sich aber stärker auf die physiologischen Wahrnehmungsoptionen des Flicker-Effekts konzentriert, der durch das rasche Alternieren von Hell und Dunkel entsteht.

Da Stroboskoplicht neben Klängen zu den wenigen frequenzabhängigen Wahrnehmungsmodalitäten gehört, war für Conrad die Fragestellung Ausgangspunkt, ob es möglich sei, harmonische Strukturen im Visuellen durch stroboskopische Stimuli unterschiedlicher Frequenzverhältnisse zu erzeugen.

Ähnlich radikal ist Zen for Film von Nam June Paik (US 1964, auch als Fluxfilm 1 bezeichnet). Paik lässt einen 20-minütigen Blankfilmstreifen stumm durch den Projektor laufen. Was man in dem weißen Rechteck aus Licht neben dem leichten Flackern der Projektion wahrnimmt (abhängig auch vom jeweiligen Projektor), sind die typischen Fehler der Projektion: die schmutzigen Ränder des Projektorbildfensters, Staub und Kratzer auf dem Film sowie den charakteristischen Rhythmus der 24 Bilder pro Sekunde, mit denen der Film durch den Projektor läuft.

Von Zen for Film ausgehend, lassen sich zwei historisch-konzeptuelle Linien ziehen.

Die Betonung des Filmmaterials nehmen die strukturellen Materialfilme der 1970er Jahre auf, so etwa die von Birgit und Wilhelm Hein, George Landow (aka Owen Land), Guy Sherwin oder Paul Sharits, die sich mit den technisch-medialen Eigenschaften des Mediums (wie z. B. Einzelbildkader und Lichtton) sowie den damit verbundenen Implikationen der formalen Filmsprache und der Wahrnehmung auseinandersetzen, um gewöhnlich verborgene filmische Prozesse sicht- und hörbar zu machen. So untersuchte Guy Sherwin in seiner Serie Optical Sound Films (UK ab 1971) verschiedene Möglichkeiten zur Erzeugung synthetischen Tons, indem er Materialien auf den gesamten Filmstreifen klebte oder gefilmte Aufnahmen bis über die Tonspur kopierte. Paul Sharits rückte in Synchronousoundtracks (US 1973–1974) die für den Transport des Films durch den Projektor gedachten Perforationslöcher ins Blick- und Hörfeld, indem er den Projektionsausschnitt vergrößerte und statt der Tonspur die Perforation über den Tonabnehmer laufen ließ.

Hinsichtlich der Bezugnahme auf östliche Religionen und Praktiken sind zum anderen die bis in die 1950er Jahre zurückreichenden Arbeiten von James Whitney und vor allem Jordan Belson zu nennen, wobei Letzterer in Filmen wie Allures (US 1961) oder Samadhi (US 1967) die visuellen und auditiven Phänomene transzendentaler Erfahrungen in der Meditation wiedergab.

In den 1960er und 1970er Jahren begannen außerdem zahlreiche Filmemacher, die Möglichkeiten von Video und elektronischer Bilderzeugung zu erforschen.[5] Belson arbeitete beispielsweise für Cycles (US 1974) mit Stephen Beck zusammen, der einen Video-Synthesizer konstruiert hatte, mit dem er ab 1972 seine Illuminated Music-Kompositionen kreierte und aufführte, die er als visual jazz bezeichnete. John Whitney, Larry Cuba und andere experimentierten mit Analogcomputern, um abstrakte Formen zu generieren. Bereits John Whitneys erster Computerfilm Homage to Rameau (1967) verweist durch die Referenz auf den Komponisten und Musiktheoretiker Jean-Philippe Rameau auf sein Interesse an Prinzipien der harmonischen Progression, das er in späteren Arbeiten wie Permutations (US 1968), der Matrix-Trilogie (US 1971–1972) und Arabesque (US 1975, Programmierung: Larry Cuba) fortführte sowie in seinem Buch Digital Harmony (1980) auch theoretisch diskutierte.

Vorläufer waren hier Mary Ellen Bute, Hy Hirsh und Norman McLaren, die bereits in den 1950er Jahren mithilfe von Oszilloskopen elektronische Bilder erzeugten.  
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