Musikalisches im abstrakten Film

2 Synthetischer Ton, Direct Film und Visuelle Musik

Fischingers Studie Nr. 2 (DE 1930) wiederum ist der wahrscheinlich erste Vorläufer des Musikvideos, denn wie die späteren Studien Nr. 3, Nr. 4 und Nr. 5 ist sie nicht nur exakt zu einem Schlager, in diesem Falle zu Vaya Veronica, synchronisiert, sondern es wurde im Abspann des Films auch auf die im Handel erhältliche Schallplatte verwiesen. Dabei verstand Fischinger seine Arbeiten allerdings nicht als eine Illustration der Musik, sondern als Transportmittel seiner abstrakten Kunst. In ihrer so erzielten unmittelbaren Zugänglichkeit waren Fischingers Studien beim Publikum sehr beliebt und daher im Gegensatz zu den meisten anderen experimentellen Filmen auch kommerziell ein Erfolg.

Ausgehend von der Überzeugung, dass zwischen Tönen und Formen fundamentale Beziehungen bestünden und der Feststellung, dass die in seinen Filmen verwendeten abstrakten Figuren den Mustern auf der optischen Tonspur ähnelten, begann Fischinger 1932 schließlich mit Experimenten zu Tönende Ornamente. Hierfür belichtete er gemalte Formen auf die Bild- und Tonspuren des Filmstreifens. Die so erzeugte synthetische Wellenform wurde mithilfe der Fotozelle des Projektors in Klänge transformiert, sodass die Betrachter die jeweiligen Formen zugleich sehen und hören konnten.

Mit dem Ende der Goldenen Zwanziger endete auf dem europäischen Festland die erste Blüte des experimentellen und damit auch des abstrakten Films. In London schuf der gebürtige Neuseeländer Len Lye 1929 mit Tusalava einen abstrakten Film, der erstmals nicht in der Tradition der europäischen Malerei stand, sondern auf samoanische Motive zurückging. Leider ist die dazugehörige Originalkomposition für zwei Klaviere verloren. In dem Farbfilm A Colour Box (UK 1935) malte Lye abstrakte Motive direkt auf den Film, verzichtet also auf eine Kamera und den fotografischen Prozess – eine Methode, die als handmade, direct oder cameraless film bezeichnet wird. Für den Soundtrack benutzte er eine kubanische Melodie, die ihm als Grundlage für die Herstellung assoziativer Bezüge zwischen bestimmten Tönen und Formen diente.

Zu den Pionieren des abstrakten Films in den USA gehört Mary Ellen Bute, die ab 1934 mehr als zwölf gegenstandslose Filme drehte. Da diese häufig als Vorfilme im kommerziellen Kino eingesetzt wurden, war sie neben Oskar Fischinger die vermutlich publikumswirksamste abstrakte Filmemacherin. Ähnlich wie Fischinger synchronisierte sie die Bilder zu populärer Musik, was sie für ein breites Publikum zugänglich machen sollte. Ihr eigentliches Ziel aber bestand darin, durch den Einsatz von Strukturanalogien, also durch die Übertragung musikalischer Kompositionsprinzipien auf die Organisation bildnerischer Elemente, eine visuelle Musik hervorzubringen.

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