Tanz als Audiovision

6 Neoklassisches Ballett, Modern Dance

George Balanchine, bis 1929 letzter Chefchoreograf der Ballets Russes, entwirft das Neoklassische Ballett als handlungslose, raumplastische Inszenierung analog zur Struktur der Musik erstmals in Serenade (1934, M: Tschaikowsky). In Concerto Barocco (1941) ist sein Verständnis des Tanzes als optischer Kontrapunkt der Komposition perfektioniert und löst ein weiteres Mal die Kontroverse um die Tanzbarkeit reiner Musik aus.[32] Musik gilt Balanchine als Zeitmaß und Grund des Tanzes. Beide Künste bezeichnet er nicht als abstrakt, obwohl er sie nicht narrativ einsetzt. Denn auch wenn Tanz und Musik nicht mimetisch Realitäten abbilden, besitzen sie eine eigene Realitätsebene: […] ein realistischer Teil des Lebens braucht keineswegs immer eine Handlung zu haben.[33] Zeitgleich zu Balanchine begründet Martha Graham in den USA den Modern Dance: Dance is absolute. In that sense it is like music. It is independent of service to an idea …[34] Die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern hat für Graham mehr Gewicht als die mit Komponisten, obwohl viele Stücke wie Primitive Mysteries (1931, M: Louis Horst) musikalische Uraufführungen sind.[35] Die Musik hat dramatisierende Funktion, wobei sie hinter den Körperrhythmus zurücktritt. [36]Der Kritiker John Martin bestimmt anhand Grahams Arbeit die Besinnung des Tanzes als Kunst der Moderne auf seine Essenz als Loslösung von Musik und Handlung. Im Tanz wird nichts repräsentiert; er ist reine Bewegung.[37]

Alwin Nikolais, Pionier eines multimedialen Tanz-Theaters, entwirft alle Elemente seiner sound and vision pieces selbst. Nikolais stärkt systematisch alle nicht-mimetischen Gestaltungsmittel gegenüber der expressiven Dramatik des Modern Dance. Er arbeitet mit manipuliertem Tonband und Techniken der musique concrète (Prism, 1956).[38] Im Werk der Schwedin Birgit Cullberg fließen Einflüsse von Kurt Jooss und Martha Graham mit klassischer Technik zu psychologischen Handlungsballetten zusammen (Fräulein Julie, 1957). Musik bezeichnet Cullberg als die Möglichkeit einer akustischen Brücke von der Bühne in den Salon, die hilft, die Resonanz der Bewegungen im eigenen Körper wahrzunehmen.[39]

Bei Merce Cunningham bestimmt die Zusammenarbeit mit John Cage ab 1942 das Verhältnis von Sound und Tanz als nicht-hierarchische Begegnung in Raum und Zeit. Auf der Basis einer organisatorischen Grobstruktur werden die jeweiligen Medien unabhängig voneinander und nicht selten ohne jede inhaltliche Abstimmung entwickelt. Cunningham nennt ihr Verhältnis reine Koexistenz, eine Nicht-Beziehung.[40] Im Einsatz von Zufallsverfahren übernimmt er ein Kompositionsprinzip von Cage.[41] Verschiedene Systeme sollen eine intentionsfreie Verkopplung ermöglichen, um Musik-Performance und Körper-Bewegung durch ihre Freistellung und Automatisierung neu zu konfigurieren[42]: rhythmische Vereinbarungen (Spontaneous Earth, 1944), Gemeinsamkeiten in Reihung, Modifizierung und Permutation (Totem Ancestors, 1942), die bloße Vereinbarung einer Zeitdauer (Suite by Chance, 1954).[43] Später werden die Disziplinen interaktiv verknüpft: In Variations V (1965) können die Tänzer über Lichtschranken und Antennen Sound- und Bildmaterial auslösen und stoppen.

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