Expanded Cinema

1 Offene Anfänge

Die Idee einer räumlich offenen Form filmischer Präsentationen entstand nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern reicht weit zurück in die Anfangsjahre des Films. Gerade in den frühen Jahren des Films, als dieser noch nicht in die Architektur des Kinos eingebunden war, zeigte sich bereits eine visionäre Auseinandersetzung mit der Präsentation dieses neuen Mediums. Nicht nur das filmische Bild, sondern auch die Technik und das Spektakel der Aufführung waren in Penny Arcades, Wintergärten oder Revuen Teil einer raumgreifenden Inszenierung. Die sehr unterschiedlichen Formen der Raumerfahrung des Films standen bald jedoch schon jenem sich immer schneller ausbreitenden Kinosetting entgegen, das sich über ausgerichtete Sitzreihen, eine unsichtbare Projektionsapparatur und verdunkelte Vorführräume definierte. Während sich dieses Setting in den folgenden Jahren zur dominierenden Form ausprägen sollte, verschwand die ursprüngliche Formvielfalt filmischer Präsentationsformen zugunsten eines nun etablierten Kinoparadigmas. Nur vereinzelt blieben Ansätze filmischer Auseinandersetzung jenseits des Kinodispositivs bestehen. Dabei sind besonders verschiedene Architektur- und Theaterentwürfe hervorzuheben.

So entwickelte Bruno Taut beispielsweise für die Internationale Baufachausstellung Leipzig (1913) das Monument des Eisens mit einem Filmprojektionskuppelsaal, der nicht der klassischen Zuschauerausrichtung des Kinos, sondern vielmehr der Anlage eines Observatoriums entsprach.[1] Die Projektion war hier also nicht frontal den Zuschauern gegenüber angeordnet, sondern konnte sie vollständig umgeben oder in der Kuppel überspannen.

Walter Gropius und Erwin Piscator entwarfen in einem ähnlichen Geist etwas später gemeinsam die Idee eines Totaltheaters (1927), in dem der expandierende Film sogar zu einem tragenden Element für Gropius wurde, der schreibt: In meinem ›Totaltheater‹ habe ich nicht nur für die drei Tiefenbühnen die Möglichkeit der Filmprojektion auf den gesamten Rundhorizont mit Hilfe eines Systems von verschiebbaren Filmapparaten vorgesehen, sondern kann auch den gesamten Zuschauerraum – Wände und Decken – unter Film setzen. […] An Stelle der bisherigen Projektionsebene (Kino) tritt der Projektionsraum.[2]

Und auch die Arbeiten von László Moholy-Nagy lassen sich hier schließlich als eine Fortsetzung dieser Beschäftigung mit Fragen hinsichtlich der Überschneidung von Architektur, Raumbildern und projiziertem Licht verstehen. Sowohl in seinen Publikationen zum Verhältnis von Stadtraum, Fotografie und Montage als auch in seinem bekannten Licht-Raum-Modulator lotet Moholy-Nagy beständig dieses dynamische Verhältnis aus. Darüber hinaus eröffnet er in seiner Idee für ein Simultan- oder Polykino[3] wie auch in den Entwürfen zu seinem Projekt Dynamik der Groß-Stadt[4] immer wieder neue Fragen im Hinblick auf der Lichtprojektion und Raumwahrnehmung.

Eine weitere historische Entwicklungslinie des Expanded Cinema, die sich etwas von architektonischen Fragestellungen absetzt, lässt sich in der Beschäftigung mit Fragen der Farblichtprojektion bzw. der sogenannten Visuellen Musik erkennen. Orientiert an der neuesten Entwicklung der theatralen Bühnenbeleuchtung und besonders an den legendären Farb-Licht-Performances von Loïe Fuller, entwickelten Künstler wie Thomas Wilfred, Alexander Rimmington oder Wladimir Baranoff-Rossiné zu Beginn des 20. Jahrhunderts Farbenklaviere und andere technische Gerätschaften (das Clavilux, das optophonische Klavier etc.) mit deren Hilfe zunächst ganz grundsätzlich verschiedenfarbiges Licht, in ähnlicher Weise wie Klänge, frei im Raum schwebend erfahrbar werden sollten.[5] Diese Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit eines freien Spiels der Farben sollte sich jedoch schon bald sehr stark in die Beschäftigung mit filmischen Darstellungsmöglichkeiten übertragen. In der Spannung zwischen Farblichtprojektionen und abstraktem Film und ihren unterschiedlichen Ästhetiken entwickelte sich dabei ein zunehmendes Verständnis für das Verhältnis zwischen Farblichtprojektionen und ihrem Bezug zum Raum. Die Eindrücke dieser sehr unterschiedlich angelegten Farblicht-Aufführungen sollten gerade für die experimentellen Filmemacher der 1950er und 1960er Jahre (wie beispielsweise Jordan Belson und dessen Überlegungen zu einem raumgreifenden Filmerlebnis) von prägender Bedeutung sein.

Weit vor der ausformulierten Idee des Expanded Cinema bzw. vor einer Prägung dieses Begriffs ab Ende der 1950er Jahre lassen sich hier die Grundmotive eines Diskurses um die räumliche Expansion des Films und seines Settings erkennen.[6]

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