Synästhesie, ein neurologisches Phänomen

4 Frühe Forschungsansätze

Auf Francis Galtons Veröffentlichung folgte Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts eine wahre Welle der Synästhesieforschung, wobei einzelne Fälle zum Teil sehr akribisch beschrieben wurden. Von 1880 bis 1920 erschienen ca. 100 Publikationen pro Dekade. Im Vordergrund des Forschungsinteresses stand wie schon bei Eugen Bleuler das Interesse, Gemeinsamkeiten zwischen den farbigen Wahrnehmungen herauszufinden, denn trotz der offensichtlichen Unterschiede gab es offenbar gewisse Regelmäßigkeiten: Sehr häufig wurde ein Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Helligkeit propagiert. Vereinzelt gab es auch Berichte über einen Zusammenhang zwischen Lautstärke und Größe, Lautstärke und Helligkeit und Tonhöhe und Größe. Es existierten unterschiedliche Erklärungsansätze: Einerseits wurde von bestimmten Wissenschaftlern die Meinung vertreten, dass die Synästhesie einen pathologischen Ursprung habe (Claviere 1889), wobei entweder eine falsche Verschaltung zwischen den entsprechenden sensorischen Zentren (Pedrono 1882) oder eine Art von mangelnder Differenzierung zwischen sensorischen Zentren (Coriat 1913) angenommen wurde. Eine andere Theorie ging davon aus, dass es gemeinsame Charakteristika zwischen den Sinneseindrücken gibt und darüber die synästhetische Wahrnehmung vermittelt wird (Bleuler 1881, Féré 1892).

Ende der 1940er Jahre verschwand die Synästhesie wieder aus dem Fokus des wissenschaftlichen Interesses, da es nicht gelungen war, Synästhesie objektiv zu messen und Introspektion (d. h. Eigenaussagen) als Methode der Datenerhebung in der experimentellen Psychologie nicht mehr anerkannt wurde. Infolgedessen ging die Anzahl der Publikationen zurück. So erschienen 1930 nur noch ca. 30 Schriften; in den folgenden Jahren noch weniger (Marks 1975).

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